Rezeption und Urteil – einleitende Bemerkungen.- Quasi-Richter. Der sensus communis im Leserurteil.- Die Macht im Parterre. Das Schaubühnenpublikum als Kunstrichter im Spiegel der Theaterjournale des 18. Jahrhunderts.- „Vulgär!“. Zur Logik einer Invektive.- „Makler des Guten“. Zur Praxis ästhetischen und kulturkritischen Urteilens im Kunstwart.- Im Salon: Vergnügen und Schrecken des Erzählens wahrer Verbrechen. E. T. A. Hoffmanns Die Marquise de la Pivardiere im Pitaval-Universum.- Im Überfluss der Indizien. Otto Soykas Das Glück der Edith Hilge (1913) und Leo Belmonts Djablica (1922).- „Wer ist schuld?“ – Herausgeber, Zensoren und Leser als richtende Instanz am Beispiel der DDR-Anthologie Die deutsche Kriminalerzählung von Schiller bis zur Gegenwart (1967–69).- „Pourquoi non?“. Vermittlung von Rechtskenntnissen an Rezipientinnen in den Causes célèbres.- Anleitung zum Richten. Jodokus Temmes Kriminalgeschichte Wer war der Mörder? als Muster juridisch-literarischer Wertung.- Zu Gericht über Leo Perutz’ Der Meister des Jüngsten Tages (1923). Schuldspruch und Diegesekonstruktion als Rezeptionsaufgabe.- Bertolt Brechts Die Maßnahme und Milo Raus Die Zürcher Prozesse im Vergleich – Urteilen zwischen Beobachtung und (Mit-)Spielen.
Dr. Nursan Celik ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Exzellenzcluster 2020 „Temporal Communities“ an der Freien Universität Berlin und Lehrende am Germanistischen Institut der Universität Münster.
Dr. Sebastian Speth ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Sonderforschungsbereich Recht und Literatur (SFB 1385) an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster im Teilprojekt A03 „Das Recht der Erfahrungsseelenkunde. Der Pitaval als Milieu- und Prozessliteratur zwischen 1730 und 1840“.
Rechtsprechung steht unter dem Diktat der Urteilspflicht und muss Mehrdeutigkeit daher einhegen und urteilend auflösen. Literatur hält Formen und Prozesse von Mehrdeutigkeit dagegen ohne Schwierigkeit aus. Sie werden als Potenzierung der ästhetischen Qualität sogar gerühmt und forciert. Die Beiträge des vorliegenden Bandes sind Texten und Rezeptionszusammenhängen gewidmet, die Rezipientinnen und Rezipienten explizit in eine Richterposition setzen. Konkret geht es um literarische Phänomene, bei denen Rezipierende nicht bloß verstehen und deuten, sondern (be- und ver-)urteilen – zum einen im engen (juristischen) und zum anderen im weiten (ästhetischen) Sinne des Urteilsbegriffs. Zu unterscheiden sind hierbei Laienurteile in Strafsachen und die Einforderung professioneller Urteile, bei denen Leserinnen und Leser (metaphorisch) als Kunstrichter angesprochen, konstruiert oder zu agieren verpflichtet werden. Das literaturgeschichtliche Spektrum reicht dabei vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, mit einem Schwerpunkt im frühen 20. Jahrhundert.