ISBN-13: 9781542315708 / Niemiecki / Miękka / 2017 / 66 str.
Ich sass zu Neapel im Herbst des Jahres 1845 eines Abends in dem Cafe di Europa. Dieses Cafe, am Toledo gelegen und die Aussicht auf die Piazza reale darbietend, bildet den Sammelplatz der feinen Welt und namentlich der ab- und zustromenden Fremden. Schon darum hat es aber auch eine magische Anziehungskraft fur das Proletariat; zu Dutzenden lugen die Lazzaroni mit ihren gierigen, hungerbleichen Gesichtern durch die blinkenden Fensterscheiben hinein, um zu sehen, wie der Gluckliche drinnen geniesst, und sicher haben sie dort einen guten Teil des unversohnlichen Hasses eingesogen, den sie brauchten, um spater so ingrimmig-kaltblutig morden und wurgen zu konnen. Nirgends tritt die Kluft, die zwischen den besitzenden und den nichtbesitzenden Klassen der Gesellschaft besteht, so schneidend scharf hervor, wie an diesem Ort, selbst in Paris nicht; denn ins Palais royal wagt das Elend sich erst hinein, nachdem es sich mit Flittern behangt hat, und dann tauscht es sich uber sich selbst und fangt zu lacheln an; hier aber steht es in nackter Blosse da. Ich brachte nie im Cafe di Europa eine Stunde zu, ohne mir die Zukunft, die sich aus einer so zerklufteten Gegenwart fruher oder spater mit Notwendigkeit entwickeln musste, auszumalen; auch mogten wenige imstande sein, die ungeheuern, wenn auch unbestimmten Bilder, die sich der Phantasie dort gewaltsam aufdrangten, so leicht, wie lastige Fliegen, zu verscheuchen. An dem Abend, von dem ich rede, setzte sich ein sizilianischer Kaufmann zu mir, der eben aus Palermo zuruckgekommen und von einem entsetzlichen Vorfall, der sich dort kurzlich ereignet hatte, noch ganz voll war. Ein Madchen flieht aus dem Hause ihres Vaters, um sich durch einen schon gewonnenen Geistlichen mit ihrem Geliebten verbinden zu lassen und so einer Zwangsehe zu entgehen. Sie erscheint zu fruh auf dem fur die Zusammenkunft bestimmten Platz und fallt zwei Gensdarmen in die Hande, die ihr erst den mitgenommenen Schmuck rauben und sie dann ermorden. Als der Geliebte nun kommt, werfen sie sich uber ihn her, bestreichen ihn mit Blut, schleppen ihn vor den Podesta und klagen ihn der Mordtat an. Naturlich finden sie Glauben, und was am Beweise fehlt, das ersetzt ihr Schwur."