ISBN-13: 9783531126654 / Niemiecki / Miękka / 1995 / 219 str.
Wer beobachtet die Literatur? Traditionell ist diese Frage einfach zu beantworten: Literaturwissenschaft und Asthetik naturlich. In einer theoretischen Perspektive, die der soziologischen Einsicht folgt, dass die Gesellschaft aus sozialen Systemen besteht, die sich selbst und einander beobachten, wird die Antwort differenzierter ausfallen. Ist die Literatur ein Sozialsystem unserer Gesellschaft, dann beobachtet die Literatur all jene Systeme, die sich in ihrer Umwelt befinden: etwa die Wirt schaft, die Politik oder das Recht. Was sie dort sieht, kann sie in die literarische Kommunikation integrieren, etwa wenn realistische Literatur okonomische, politi sche oder juristische Sachverhalte literarisch verarbeitet. Dies geschieht hochselek tiv, denn beobachten impliziert stets, dass etwas beobachtet wird und anderes nicht; das heisst, dass eine Unterscheidung involviert ist, die die Beobachtung leitet und zwischen dem unterscheidet, was selektiert wird, und dem, was der Selektion ent geht. Das derart unterscheidende und beobachtende Literatursystem muss dabei permanent entscheiden, was es fur poesiefahig halt und was nicht. Diese Entschei dung ist historischem Wandel unterworfen. Schildert der Naturalismus eines Ger hard Hauptmann dramatisch die bedrangten Zustande der proletarischen Milieus, so verzichtet der Asthetizismus eines Stefan George polemisch auf derart "triviale" Themen, die dann ein halbes Jahrhundert spater unter sozialkritischen Vorzeichen als Arbeiterliteratur erneut hoffahig werden. Stabil bleibt bei wechselnden The menvorlieben allerdings die Tatsache, dass bei derartigen Selektionen nicht die Ei gengesetzlichkeiten okonomischer, politischer oder rechtlicher Verhaltnisse im Vordergrund stehen, sondern die Frage, ob die aus der Umwelt ins System der Lite ratur importierten Themen interessante oder langweilige Unterhaltung versprechen."